
Ich lehne mich jetzt mal sehr weit aus dem Fenster und schreibe einfach auf, was in meiner Familie passiert ist und welche Fragen das Thema Schizophrenie in mir aufwirft. Es handelt sich hier um meine eigenen Gedanken, ohne wissenschaftlichen Hintergrund… eine Hypothese.
Mein Bruder war acht Jahre älter als ich und somit habe ich nicht wirklich konkrete Erinnerungen an seine Kindheit. Vielmehr erinnere ich mich an die Zeit, als er jugendlich war. Er war sehr intelligent, sensibel und vielleicht sogar sensitiv veranlagt. Er war introvertiert, ein Einzelgänger. Still aber aufbrausend. Ein Mensch voll tiefer Gefühle, die er so vehement in sich zurückhielt.
Trotzdem ging er auf eine Art sein Leben, wie es für ihn richtig war. Er „vergeudete“ seine Schulzeit nicht mit lernen, sondern setzte sich nur für sein Abitur eine Zeitlang an den Schreibtisch, um dieses dann mit einem 2,0-Abschluss zu schaffen. Danach liess er sich attestieren, dass er weder für den Militärdienst noch als Zivildienstleistender geeignet war aufgrund psychischer Probleme. Er war stolz darauf, dass er den Psychologen hinters Licht geführt hatte.
Danach begann er ein Studium in Mathematik und Physik.
Nach zwei Jahren brach er das Studium ab und begann seine Reise zu sich selbst und ein Stück weit auch von sich selbst weg. Er verbrachte die meiste Zeit der kommenden Jahre in Australien. Das Land, dem er sein Herz schenkte. Zwischendurch war er für ein paar Monate zuhause, um sich mit einem Job seine nächste Reise zu finanzieren.
Irgendwann war er so verändert, dass sich meine Eltern sorgten. Er war nicht mehr der, den wir kannten: rücksichtslos, kritisch, aufbrausend, aggressiv. Nicht wirklich einzuschätzen…
Arbeiten hielt er nicht mehr für nötig. Körperpflege auch nicht. Er spuckte uns ins Essen, wenn ihm das Tischgespräch missfiel, er verbot uns fernzusehen, weil uns die Werbung krank machen würde. Er verachtete das System.
Kurz um, ein psychiatrisches Gutachten stufte ihn in die Kategorie schizophren ein.
Einerseits eine Diagnose, andererseits ging es von diesem Moment an bergab. Im Juni 2004 nahm sich mein Bruder das Leben. Das Ende einer langjährigen Krankheitsgeschichte.
Eine Frage, die mich bis heute nicht loslässt, ist, warum mein Bruder schizophren wurde? Oder warum werden Menschen schizophren? Ist es eine Laune der Natur, Schicksal, die ihre Opfer einfordert? Was tragen Umfeld und Erziehung dazu bei? Verschlimmern Psychopharmaka noch den Zustand?
Heute habe ich selbst zwei hochsensible Kinder und vor allem der eine davon erinnert mich sehr an meinen Bruder. Hochsensibel, sensitiv, weltkritisch. Die Dinge, die mein Bruder damals in einer krankhaften Art kritisiert hatte, kritisiere ich heute selbst. Ich kann an seinen Worten nichts Falsches erkennen, wenn auch die Art und Weise schwierig für alle Beteiligten war.
Doch ich sehe, wie sehr man als Eltern eines hochsensiblen Kindes dafür kämpfen muss, dass dieses Kind so sein darf, wie es ist. Dass es sich nicht an alle anderen anpassen muss, abgehärtet werden muss, etwas sein muss, dass es nicht ist, um im System vermeintlich besser klar zu kommen.
Und ich frage mich, ob mein Bruder krank geworden wäre, wenn er diese Eigenschaften als Kind und Jugendlicher nicht hätte abspalten müssen. Ob seine Krankheit zu heilen gewesen wäre, wenn man seine Schizophrenie nicht mit Psychopharmaka unterdrückt hätte und sich stattdessen dem Menschen dahinter gewidmet hätte. Dieses abgespaltene Stück Selbst wieder im positiven Sinne belebt hätte. Dieser ganzen Wut und Aggression, mit der dieser Teil schlussendlich ausbrechen musste, mit Liebe begegnet wäre.
Ich sehe meine Kinder an und weiss, dass, egal wie schwierig es für mich wird, sie immer die sein dürfen, die sie sind. Manchmal verfalle auch ich in diese alten Muster und versuche, aus diesen wunderbaren Wesen etwas zu machen, das sie nicht sind. Doch zum Glück sind sie so unglaublich stark und sicher in sich, dass sie es mich sofort wissen lassen.
Das ist sehr persönlich, was ich hier schreibe und ich möchte auf keinen Fall etwas pauschalisieren. Aber die grosse Angst von uns Eltern, Erziehern, Pädagogen ist ja nun mal, dass unsere Kinder irgendwann nicht dem Bild entsprechen, wie wir es uns für sie vorstellen.
Wir können nicht wissen, was aus unseren Kindern wird, wenn wir sie so sein lassen, wie sie sind, wenn wir sie nicht zur Anpassung zwingen, wenn wir sie nicht manipulieren und erziehen.
Aber wir wissen auch nicht, was aus unseren Kindern wird, wenn wir genau das tun.
Das einzige, worin ich mir sicher bin, ist, dass jeder Mensch aus einem bestimmten Grund auf dieser Welt ist und dass er diesen Grund und seinen eigenen persönlichen Weg nur finden kann, wenn wir Vertrauen in ihn haben, ihm mit Liebe, Respekt und Anerkennung begegnen und ihn so annehmen, wie er ist.
Was sind Deine Gedanken dazu? Ich freue mich auf Eure Kommentare und Euer Feedback!